Volkswirtschaft/Geldpolitik – 05.10.2023
Die wichtigsten Fakten:
Die USA sind seit Jahrzehnten die wirtschaftlich und politisch mächtigste Nation auf Erden.1 Sie verfügen über die bedeutendsten Kapitalmärkte, viele der einflussreichsten Unternehmen, starke internationale Allianzen, ein hochgerüstetes Militär, renommierte Hochschulen und nicht zuletzt einen enormen kulturellen Einfluss weltweit. Doch wenn „die Welt aus den Fugen gerät“, wie UN-Generalsekretär António Guterres auf der Vollversammlung der Vereinten Nationen Mitte September warnte, könnten selbst scheinbar unumstößliche Gewissheiten ins Wanken geraten. Insbesondere China möchte selbst die Spitzenposition übernehmen und sucht dafür immer neue Partnerschaften. Das erklärte Ziel von Staatspräsident Xi Jinping ist, 2049 die Weltmacht Nummer 1 zu sein. Wäre das angepeilte Datum aufgrund des 100. Jahrestages der Staatsgründung nicht so symbolträchtig, wahrscheinlich wäre der Machtwechsel sogar bereits für ein paar Jahre früher geplant.
Blickt man auf die aktuellen Entwicklungen rund um den Globus, scheint das chinesische Vorhaben zwar ambitioniert, aber nicht unmöglich. Denn trotz der chinesischen Konjunkturschwäche wächst das Reich der Mitte nach wie vor deutlich stärker als die US-Wirtschaft. Während China ein aus seiner Sicht schwaches Jahr mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 4,8 Prozent abschließen dürfte, sind die erwarteten 2,0 Prozent für die USA eher als positive Überraschung zu werten. Im kommenden Jahr könnte die Wachstumsdifferenz sogar noch deutlicher ausfallen, wenn der steile Zinserhöhungszyklus der US-Notenbank Fed auf die Realwirtschaft durchschlagen und die Dynamik der US-Konjunktur abschwächen dürfte – wie es einige Frühindikatoren bereits anzudeuten scheinen. Für 2024 rechne ich nur noch mit einem US-Wirtschaftswachstum von 0,4 Prozent.
Zu einem immer größeren Problem wird für die USA zudem der hohe Staatsschuldenstand, der mittlerweile auf mehr als 120 Prozent des US-BIP angewachsen ist und aufgrund erwarteter Haushaltsdefizite von jeweils rund 6 Prozent in den kommenden Jahren weiter steigen dürfte. Gut 85 Prozent der Ausgaben sind dabei mandatorisch2 – etwa für die Veteranenversorgung, den Gesundheitssektor, Pensionen oder Verteidigung – und damit ohne einen überparteilichen Konsens im Kongress nicht antastbar. Dieser dürfte aber in einem politisch und gesellschaftlich so gespaltenen Land wie den USA derzeit kaum zu erreichen sein. Zumal aktuell der Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl im November 2024 an Fahrt aufnimmt und die Fronten eher noch zu verhärten scheint – zwischen den und sogar innerhalb der Parteien.
Aufgrund dieser Herausforderungen einen Abgesang auf die USA anzustimmen, halte ich jedoch für falsch. Aus wirtschaftlicher Sicht erachte ich beispielsweise ein Ende des US-Konjunkturzyklus ohne eine ausgeprägte Rezession für möglich. Für eine solche vergleichsweise „weiche Landung“ spricht unter anderem der robuste Arbeitsmarkt, dessen Abkühlung bislang nicht mit Massenentlassungen einhergeht. Und mit der Fed-Entscheidung vom 20. September für eine Zinspause dürfte der Leitzinshöhepunkt für diesen Zyklus erreicht worden sein, zumal die Kerninflationsrate in den USA zuletzt weiter gefallen ist. Auf struktureller Ebene wird die Schuldenproblematik der USA zumindest relativiert, wenn man bedenkt, dass US-Staatsanleihen und US-Dollar in unsicheren Zeiten von Investoren weltweit nach wie vor als „sichere Häfen“ gesucht werden.
Politisch erscheint die Situation dagegen heikler. Zwar wurde Ende September in letzter Minute noch eine vorübergehende Übereinkunft zwischen Demokraten und Republikanern über die Verabschiedung des Haushalts erzielt und so ein möglicher Shutdown von Regierungsbehörden zumindest bis Mitte November verhindert. Langfristig wird jedoch viel davon abhängen, wie die Präsidentschaftswahl 2024 ausgehen wird.
Sicher scheint, dass nicht nur China, sondern auch andere Nationen wie Indien oder Brasilien in den kommenden Jahrzehnten versuchen werden, ihren globalen wirtschaftlichen, aber auch politischen Einfluss zu vergrößern. Doch die USA sind mehr als nur ein Land, das stets in seinem eigenen besten Interesse handelt, sie vermitteln auch seit jeher sehr erfolgreich die Idee, für Menschen aus aller Welt eine erstrebenswerte Heimat bieten zu können. Vor allem die „klügsten Köpfe“, um die in Zeiten des demografischen Wandels in den Industrie- und einigen bedeutenden Schwellenländern ein harter Wettbewerb tobt, zieht es nach wie vor oftmals in das „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“. Eine vergleichbare Emigrationsbewegung etwa nach China oder Indien kann ich derzeit nicht erkennen – und solange sich dies nicht ändert, dürfte es schwierig werden, den USA langfristig Paroli zu bieten.
Für Anleger bleiben die Vereinigten Staaten meiner Überzeugung nach langfristig ein essenzieller Bestandteil einer ausgewogenen Anlagestrategie. Kurz- und mittelfristig gilt es dabei zwischen einzelnen Sektoren zu differenzieren. Am US-Anleihemarkt etwa dürften sich die Renditeaufschläge für bonitätsstarke Papiere mit einem Investment-Grade-Rating einengen, während am Markt für riskantere Hochzinsanleihen steigende Ausfallraten die Aufschläge in die Höhe treiben könnten – was bei Letzteren eher eine Normalisierung als einen starken Anstieg widerspiegelt.
Am mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 20 insgesamt hoch bewerteten US-Aktienmarkt erscheinen derzeit vor allem Titel mit Bezug zum Thema künstliche Intelligenz „teuer“. Hier empfiehlt sich ein Blick auf die Wertschöpfungsketten der einzelnen Unternehmen, um beurteilen zu können, welche Papiere auf absehbare Zeit noch Kurspotenzial bieten könnten. Langfristig bleibt das Thema für entsprechend risikobereite Anleger hochinteressant. Andere Titel aus Sektoren wie Technologie oder Kommunikationsdienstleistung könnten in Anbetracht einer Beschleunigung ihres Gewinnwachstums dagegen bereits jetzt interessante Einstiegsgelegenheiten bieten.
1 U.S. News: Rankings Power
2 Fiscal Data: Federal spending
(abgerufen jeweils am 02.10.2023 um 10.00 Uhr).
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Redaktionsschluss: 02. Oktober 2023, 15 Uhr